Kürzlich gingen erschütternde Bilder aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln durch die Medien. Das neue Buch von Jean Ziegler bringt diese Zustände schon im Titel auf den Punkt: „Die Schande Europas“! Ziegler, Professor für Soziologie und weltbekannter Menschenrechtler, besuchte im Mai 2019 die Insel Lesbos. Wie es seine Art ist, geht er mitten unter die Menschen, spricht intensiv mit ihnen und beobachtet genau. So werden bewegende Schicksale lebendig – die Geschichte von Waisenkindern, oder von Familien, deren Existenz in ihrer Heimat von einem Tag auf den anderen zusammengebombt und ein Teil der Familie ausgelöscht wurde. Und die jetzt im Matsch unter Plastikplanen hausen und sich mit 100 anderen eine Toilette und mit 150 eine (kalte) Dusche teilen müssen. Ziegler spricht auch mit Einheimischen, deren traditionelle Gastfreundschaft und Solidarität das alles überhaupt nicht mehr auffangen kann, und mit vielen internationalen Helfern vor Ort. Deren erschütternde und empörende Zeugnisse und Beobachtungen, aber auch großes Engagement fließen ebenfalls in den Bericht ein.
Ein besonderes Verdienst Zieglers ist es aber, dass er es nicht bei Beschreibung und Anklage der untragbaren Situation für die Flüchtenden belässt. Auch nicht bei der Kritik an den unmenschlichen bis faschistischen Methoden griechischer Polizisten, Militärs und Behörden – mitsamt der „traditionellen“ unsäglichen Korruption. Er deckt auf, dass all das Handlangerarbeiten für die EU sind, die seit Jahren eine knallharte Anti-Flüchtlingspolitik betreibt. Ein ganzes EU-finanziertes Konsortium wird dafür eingesetzt: FRONTEX und die griechische und türkische Küstenwache versuchen gemeinsam mit Eisenstangen, Schüssen, Harpunen und anderen Scheußlichkeiten die Flüchtlingsboote zurückzutreiben oder zu zerstören. Dann EUROPOL, das die Flüchtlinge manchmal erst nach 1,5 Jahren verhört, und EASO, die eine erste Befragung zum Asyl durchzieht – hier wird bereits massenhaft aussortiert und zurück geschickt. Das Buch liefert auch viele Details, wie die Rüstungsindustrie märchenhaft an der EU-finanzierten „Menschenjagd an den Grenzen der Festung Europas“ (S. 30) verdient.
So räumt Ziegler mit dem Mythos von der EU als humanitäre Wertegemeinschaft gründlich auf. Die Genfer Flüchtlingskonvention, von allen EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnet, und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Und auch der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge bleibt gegenüber den EU-Regierungen passiv. „Unverzeihlich“, urteilt Ziegler.
Dieses lebendige und spannende Buch ist für jeden, der sich nicht nur über die Bilder von Lesbos empört, sondern mehr über Zusammenhänge und Hintergründe dieser „Schande Europas“ erfahren will. Eines der Resumés Jean Zieglers: „Es ist an uns, die Machtverhältnisse zu verändern. Wir müssen die öffentliche Meinung mobilisieren und unseren Kampf organisieren.“ (S. 143)
Das Buch erschien im Bertelsmann Verlag; ISBN 978-3-570-10423-1, 143 Seiten, 15 Euro. erhältlich z.B. über bestellung(at)people-to-people.de
Renate Mast